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Dr.MargitNaarmann
Artikel vom 26.Juli 2024

Erschienen im Westfalen-Blatt (zum Artikel)

Was Paderborn verloren hat

Margit Naarmann hat schon 2001 die Geschichte der Paderborner Familie Grünebaum erzählt. Jetzt ist das Buch in einer neuen, überarbeiteten Auflage im Paderborner TAKT-Verlag erschienen – passend zur Umbenennung des früheren Kaufhauses der Familie in „Haus Grünebaum“.

„Eine ‚vernünftige‘ Auswanderung“ heißt das Werk, für das Margit Naarmann in den 1990er-Jahren in Deutschland und den USA recherchierte. Sie lernte  Mitglieder der Familie Grünebaum, Zeitzeugen und Nachfahren kennen. So entstand eine Arbeit, die intime Einsichten mit wissenschaftlicher Akribie verbindet. Die Erzählung verfällt nie in einen empörten Tonfall, sondern schildert empörende Entwicklungen zurückhaltend sachlich.

Vor allem die Lebenserinnerungen der Grünebaums sind spannend und unterhaltsam. Das gilt vor allem für die autobiographischen Notizen von Fritz Walter Grünebaum, der sich als junger Mann – Thomas Manns Felix Krull nicht unähnlich – auch in der oberen Gesellschaft durchschlägt, etwa als Steward auf einem Atlantikdampfer.

Die Familie geht schon bald nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten ihre Auswanderung planmäßig an, obwohl der Abschied von Paderborn schwerfällt – und Flucht und Ankunft in den USA sich noch schwieriger gestalten. Selbstmitleid oder Anklagen findet man in diesen Aufzeichnungen trotzdem nicht. Bei den familiären Erörterungen, was bei der Ausreise aus Deutschland zu beachten sei, fällt der titelgebende Satz, nur mit möglichst wenigen Besitztümer sei eine „vernünftige“ Auswanderung möglich, eine für die zahlreichen Briefe zwischen den Familienmitgliedern typische ironische Feststellung.

Ludwig Grünebaum, in Paderborn Inhaber und Geschäftsführer des Kaufhauses „Steinberg  & Grünebaum“, startet sein neues amerikanisches Leben als Haustür-Verkäufer von Strümpfen und Papier. Er beklagt sich nicht. Seine ausgeglichene Persönlichkeit hatten schon die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei „Steinberg & Grünebaum“ geschätzt. Im Buch ist nur ein emotionaler Ausbruch benannt. Als er 1953 bei seinem ersten Besuch Paderborns nach dem Krieg als „der Jude Grünebaum“ bezeichnet wurde, war die Grenze überschritten. Paderborn besuchte er, anders als sein Sohn und viele Verwandte, nie wieder.

PostkarteGruenebaum

Das Kaufhaus, das die Grünebaums 1910 am Rathausplatz eröffneten, ist bis heute ein herausragender städtebaulicher Blickpunkt und Sitz eines stadtbekannten Cafés zwischen Rathaus und der Marktkirche. Kaufhäuser gab es vor dem Ersten Weltkrieg nur in den Metropolen, mit der Grünebaumschen Innovation gehörte Paderborn zu den Pionieren der Warenhauskultur.

1936 begannen die Verhandlungen über den erzwungenen Verkauf des Kaufhauses. Die Familie erhielt für ihr Lebenswerk einen Preis weit unter dem Einheitswert. 88 Jahre trug das im Krieg nicht zerstörte Gebäude den Namen des Käufers, bis die VerbundVolksbank OWL eG die Immobilie 2023 kaufte und Ende Juli 2024 in „Haus Grünebaum“ umbenannte.

Eine späte Wiedergutmachung, für die sich die 2016 verstorbene Margit Naarmann Zeit ihres Lebens eingesetzt hatte. Ihr gebührt das Verdienst, die weitgehend vergessene Geschichte wiederentdeckt zu haben. Es ist ein Buch, das Gründe, Taten und Verantwortung benennt, gleichzeitig aber eine Familie schildert, die innovativ und weltoffen ist und das Leben zu genießen weiß. Beim Lesen darf man durchaus Trauer empfinden, nicht nur über das, was der Familie angetan wurde, sondern auch darüber, was Paderborn mit den Grünebaums und den anderen jüdischen Familien verloren hat.

TAKT-Verlag

Margit Naarmann: Eine „vernünftige“ Auswanderung. Aufstieg, Verfolgung und Flucht der Familie Grünebaum,
2. überarbeitete Auflage – Paderborn, TAKT-Verlag 2024; Hardcover, 223 Seiten, 66 Abbildungen, 20 Euro

ISBN 9 783931 732189